Thomas Manns "Lieblingskind", die Novelle Tonio Kröger, jene Geschichte des Lübecker Bürgersohnes, der durch die Kunst aus seinen heimatlichen Verhältnissen ausbricht, bevor er in einer Rückwendung zum Norden die Einlösung seiner Sehnsüchte erfährt, diese herausragende literarische Selbst- und Sinnsuche, liegt hier als Hörbuch vor. Ein wohl singulärer Fall: Hier spricht die Stimme des 19. Jahrhunderts im Original zum heutigen Hörer -- es liest Thomas Mann selbst aus seiner frühen, zwischen 1899 und 1903 entstandenen Novelle. Aufgezeichnet wurde die Lesung 1955, wenige Wochen vor seinem Tod. Es ist die Stimme des alten Thomas Mann, welche der Lesung eine ganz außergewöhnliche Atmosphäre verleiht -- und manchmal die Frage aufwirft, wie eine solche Erzählung von einem jungen Autor überhaupt geschrieben werden konnte. Nur manchmal, wenn Thomas Mann Äußerungen oder Gedanken der jungen Figuren liest, kann seine Stimme unpassend wirken. Der Lesestil des Autors eröffnet dem Leser neue Perspektiven am Text oder ruft bereits Bekanntes verstärkt ins Bewußtsein. Der Name der Hauptfigur beispielsweise, "dieser aus Süd und Nord zusammengesetzte Klang", zerfällt erst in der Aussprache des aus Lübeck stammenden Autors in zwei Elemente aus völlig verschiedenen Klangwelten -- die wiederum auf Tonio Krögers zentralen Zwiespalt zwischen nordisch-patrizischem Bürgertum und südlichem Künstlertum verweisen. Der behutsame Vortrag wertet jedes einzelne Wort auf; außergewöhnlicher Rhythmus oder extravagante Betonungen nähern den Prosatext der Lyrik an. Lesend macht der Autor dem Hörer Tonio Kröger als Wortkunstwerk bewußt. Welche Dynamik z.B. dem allerersten Satz innewohnt, mit welch zwingender Prägnanz der Einsatz der Novelle zu überraschen weiß, das muß man gehört haben -- nicht nur als Thomas-Mann-Liebhaber: "Die Wintersonne stand nur als armer Schein, milchig und matt hinter Wolkenschichten über der engen Stadt." Mann trägt seinen Text nicht nur vor, er zelebriert ihn. Für die 66 Seiten der Novelle benötigt er dreieinhalb Stunden. Unmöglich kann die magische Spannung so lange gehalten werden: Wer versucht, das ganze Buch auf einmal durchzuhören, verpaßt den Reiz dieser ungeheuren Intensität. --Jan-Arne Sohns
Thomas Manns "Lieblingskind", die Novelle Tonio Kröger, jene Geschichte des Lübecker Bürgersohnes, der durch die Kunst aus seinen heimatlichen Verhältnissen ausbricht, bevor er in einer Rückwendung zum Norden die Einlösung seiner Sehnsüchte erfährt, diese herausragende literarische Selbst- und Sinnsuche, liegt hier als Hörbuch vor. Ein wohl singulärer Fall: Hier spricht die Stimme des 19. Jahrhunderts im Original zum heutigen Hörer -- es liest Thomas Mann selbst aus seiner frühen, zwischen 1899 und 1903 entstandenen Novelle. Aufgezeichnet wurde die Lesung 1955, wenige Wochen vor seinem Tod. Es ist die Stimme des alten Thomas Mann, welche der Lesung eine ganz außergewöhnliche Atmosphäre verleiht -- und manchmal die Frage aufwirft, wie eine solche Erzählung von einem jungen Autor überhaupt geschrieben werden konnte. Nur manchmal, wenn Thomas Mann Äußerungen oder Gedanken der jungen Figuren liest, kann seine Stimme unpassend wirken. Der Lesestil des Autors eröffnet dem Leser neue Perspektiven am Text oder ruft bereits Bekanntes verstärkt ins Bewußtsein. Der Name der Hauptfigur beispielsweise, "dieser aus Süd und Nord zusammengesetzte Klang", zerfällt erst in der Aussprache des aus Lübeck stammenden Autors in zwei Elemente aus völlig verschiedenen Klangwelten -- die wiederum auf Tonio Krögers zentralen Zwiespalt zwischen nordisch-patrizischem Bürgertum und südlichem Künstlertum verweisen. Der behutsame Vortrag wertet jedes einzelne Wort auf; außergewöhnlicher Rhythmus oder extravagante Betonungen nähern den Prosatext der Lyrik an. Lesend macht der Autor dem Hörer Tonio Kröger als Wortkunstwerk bewußt. Welche Dynamik z.B. dem allerersten Satz innewohnt, mit welch zwingender Prägnanz der Einsatz der Novelle zu überraschen weiß, das muß man gehört haben -- nicht nur als Thomas-Mann-Liebhaber: "Die Wintersonne stand nur als armer Schein, milchig und matt hinter Wolkenschichten über der engen Stadt." Mann trägt seinen Text nicht nur vor, er zelebriert ihn. Für die 66 Seiten der Novelle benötigt er dreieinhalb Stunden. Unmöglich kann die magische Spannung so lange gehalten werden: Wer versucht, das ganze Buch auf einmal durchzuhören, verpaßt den Reiz dieser ungeheuren Intensität. --Jan-Arne Sohns